Die Schauspielpartitur

Eine Spielpartitur erstellen bedeutet Figur für Figur und Szene für Szene eine genaue Text- und Handlungsanalyse durchzuführen, auf Basis einer engagierten, ja liebevollen Betrachtung der Rolle (auch und gerade bei Bösewichten und finsteren Gestalten). Je klarer Figuren und Absichten, umso schärfer gestaltet sich im Blick des Regisseurs der relevante Kontrast – die Grundspannung seiner Inszenierung. Überraschend, fundamental, erregend, existenziell: Etwas wird aufs Spiel gesetzt! Troilus und Cressida träumen von absoluter Liebe inmitten des ordinärsten, dreckigsten Kriegstreibens. Hamlet kennt die unglaubliche Wahrheit und ist ihr nicht gewachsen. Diese grundlegende “Kontrastierung” (nicht zu verwechseln mit dem Konflikt) ist es, die den Zuschauer und dessen Denkgewohnheiten aufrüttelt.

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Textanalyse

Erster Schritt: Untersuchung des Textes und dessen Sprache hinsichtlich seiner Strukturen.

  • Nominale Analyse: Feststellung des offenbaren, logischen Sinns („Was wird gesagt?“); sie entlastet den Schauspieler rational und unterstützt dessen Konzentration auf die innere Absicht der Figur.
  • Interpunktion der erlebten Rede: Hier geht es nicht um die grammatikalische Interpunktion eines korrekten Satzes, sondern um die spontane, situations-, absichts- oder emotionsbedingte “Interpunktion” des sprechenden Menschen. Seine Äußerung formt sich erst mit der Zeit, wobei gerade Zäsuren und Brüche (mäandernder Gedanke) den eigentlichen Sinn vermitteln („Was macht/meint er, indem er etwas äußert?“). Für die Partitur wird diese besondere, spielbezogene Interpunktion grafisch, durch sogenannte Barren, markiert.
  • Betonung: Eine Betonung ist immer auch eine negative Hervorhebung, denn das Gegenteil wird ausgeschlossen. Man unterscheidet zwei Ebenen: die Sinnbetonung und den emotionalen Schwerpunkt

Handlungsanalyse

Die Arbeit am Text geht Hand in Hand einher mit der Arbeit an der Handlung, genauer mit der Ermittlung der Absichten, welche die Figuren antreiben.

Absichten entstehen aus einem starken inneren Antrieb heraus, einer oft kaum bewussten oder sogar völlig unbewussten Notwendigkeit.

Wichtig für das lebendige Spiel ist dabei das System der Brüche: Brüche sind innerliche Sprünge der Figur, die einen Vorgang kürzen, korrigieren oder ganz umlenken. Das Handeln auf der Bühne sollte kein geradliniges, vorhersehbares, also banales Tun und Lassen sein. Eine spannende Handlung zeigt sich vielmehr als eine Art Slalom der menschlichen Absichten und Reaktionen – ein Slalom mit sehr unregelmäßig abgesteckten Toren!

Die dramatische Kunst ist außerdem eine Kunst der Indizien. Indizien ermöglichen einen Blick ins Innere der Figur. Der gute Schauspieler verwendet ein ganzes System von Indizien, wobei Körpersprache und die Art der Bewegung im Raum (Proxemik) zentrale Werkzeuge der Indizienkunst bilden.

Grundlage der Handlungsanalyse und –gestaltung ist immer die aktuelle Situation der Figuren. Sie wird fundamental durch den Stil des Verhaltens und Handelns, bedingt durch Alter, Milieu, die historischen, sozialen und individuellen Umstände geprägt. Im Sinne der Spielpartitur werden diese Aspekte durch die Festlegung der Handlungsstruktur verfügbar.

Handlungsstruktur

Absichten tragen die Handlung. Sie zeigen, tarnen, entwickeln und verändern sich und spielen auf mehreren Ebenen. Für die Geschlossenheit und innere Stimmigkeit der Erzählung, die der Regisseur dem Publikum bietet, muss die Menge an Absichten aller Figuren strukturiert und hierarchisiert werden:

  • große Handlungsbögen, bedingt durch die gleichbleibende Bewusstseinslage der führenden Figuren (einThema), umfassen größere Teile des Stücks, geben die Tonalität der Handlung vor und sichern den Gesamtzusammenhang (sog. Perioden).
  • mittlere Handlungsbögen, nämlich strategische Schritte auf dem Weg zum Ziel der Absicht, treiben die Kernhandlung voran (sog. Regiefragmente); sie sammeln sich zu Runden.
  • kleine (aktuelle) taktische Schritte innerhalb der Strategie, zeigen sich als verbale und nonverbale Aktionen; sie realisieren immer nur eine einzige, spontane Absicht (Handlungseinheiten).

Rollenanalyse

Der Schauspieler lebt sich in seine Rolle hinein. Dabei hilft ihm die vielschichtige Betrachtung. Er manifestiert eine klar definierte Absicht in der Handlungseinheit, behält gleichzeitig die strategische Ausrichtung im Hinterkopf und gestaltet sein Spiel in der Tonlage der Periode. Allerdings wird geplantes Handeln durch neue Ideen der Figur oder äußere Umstände ja oft unerwartet abgeändert (was Stanislawski so treffend mit dem Begriffspaar “Aktion-Gegenaktion” bezeichnet hat) und wird eben dadurch erst glaubwürdig. Um seine Figur möglichst tief in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen und dadurch zum Leben zu erwecken, unterfüttert der Schauspieler sein Spiel mit einer  genauen Rollenanalyse. Diese bietet ihm eine sichere Grundlage für sein Spiel und stärkt sein Erleben von Figur und Aktion. 

In der Rollenanalyse und –gestaltung werden geklärt:

  • die Funktion der Figur für Story, Thema, Konflikt und Figurenkonstellation
  • die Weltanschauung und die persönlichen Werte der Figur
  • die Biografie der Figur als Voraussetzung für ihre Handlungen. Sie gibt Antwort auf die Frage: Wie ist meine Figur geworden, was sie heute ist? Was hat sie erlebt, was prägt sie?
  • die Eigenarten des Ausdrucks, des Körpers, der Bewegungs- und Sprechweise usw.